Natürlich lese ich noch Bücher von Männern. Eine kommt ja nicht darum herum, besonders ich als Literaturwissenschaftlerin nicht. Ich habe jahre- und jahrzehntelang überwiegend Männer gelesen. Das kommt wie von selbst. Die Einsamkeit und Tragik meiner jugendlichen Existenz haben mir Kafka, Hesse und Salinger versüßt. Heute bin ich an dem Punkt, dass ich mich langweile. Die hegemoniale Stimme eines selbstmitleidigen Größenwahns – ich kann sie nicht mehr hören. Ich will jetzt die anderen Geschichten kennenlernen: »Schick mir einen Schreiber, oder besser noch, eine junge Sklavin mit scharfem Gedächtnis und kraftvoller Stimme. Verfüge, daß sie, was sie von mir hört, ihrer Tochter weitersagen darf: Die wieder ihrer Tochter, und so fort. So daß neben dem Strom der Heldenlieder dies winzige Rinnsal, mühsam, jene fernen, vielleicht glücklicheren Menschen, die einst leben werden, auch erreichte«, schreibt Christa Wolf in »Kassandra«. Ich habe mein Leben lang überwiegend Männer gelesen, weil unsere Gesellschaft das so vorsieht. In meinem Vortrag möchte ich von der anderen Seite auf den Lektürekanon blicken. Ich möchte Studien, Theorien und eigene Spekulationen über das »Rinnsal« vorstellen, wie Christa Wolf es nennt. Mein Vortrag ist eine Rechtfertigung: Warum ich keine Männer mehr lese.
Julia Ingold ist Literaturwissenschaftlerin an der Uni Bamberg. Ihre Doktorarbeit hat sie über die deutsch-jüdische Avantgarde-Künstlerin Else Lasker-Schüler geschrieben. Ansonsten beschäftigt sie sich mit Comics, Popmusik und Literaturtheorie. Zuletzt hat sie in der freien uni über das Thema »Weibliche Selbstermächtigung in der deutschsprachigen Lyrik von Else Lasker-Schüler bis Schwesta Ewa« gesprochen.
Eintritt: frei